Herausgeber:innen:
Marina Hämmerle und Florian Aicher
Auftraggeber: Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg
Fotografie: Petra Steiner
Verlag: Edition DETAIL, München
Gestaltung: Stefan Gaßner
Holz – Von der Materie zum Gebauten
H wie Holz – ein Stoff, der uns seit unserer Kindheit vertraut ist. H wie Holzbaukultur – ein fester Bestandteil des Bauens in unseren Breiten. Seine Renaissance wurzelt in der Rückbesinnung auf regionales Erbe und ökologisches Potenzial. In der Revitalisierung alter Bausubstanz, in der Hinwendung zu umweltverträglichem Bauen findet das lokal geprägte handwerkliche Wissen und Können zu neuer Größe. Welche forstwirtschaftlichen, technologischen und baukulturellen Entwicklungen dazu führten, wie divers diese sich regional gestalten, kommt in diesem Buch zur Sprache. Schönheit und Qualitäten der Materie Holz werden auf unerwartete Weise ins Bild gesetzt.
Regula Lüscher
Die Stadtmacherin
Dipl. Arch. ETH/BDA
Senatsbaudirektorin/Staatssekretärin Berlin a.D.
Honorarprofessorin Universität der Künste
Fotos: © Petra Steiner
Fotos: © Petra Steiner
Autor:innen: Florian Aicher, Andreas Brandolini, Zora del Buono, Dominique Gauzin-Müller, Marina Hämmerle, Achim Menges, Ákos Moravánszky, Matthias Mulitzer, Hans Joachim Schellnhuber, Alfred Teischinger, Gerhard Zickenheiner
Gesprächspartner:innen: Stephan Birk, Hermann Kaufmann, Markus Lager, Regula Lüscher, Martin Mackowitz, Martin Rauch, Sebastian Schmäh, Ulrich Schraml, Reinhold Straub
Fotos: © Petra Steiner
Leseprobe:
Fünf Hölzer … oder ein unverschämt subjektiver Spaziergang entlang der Lebensthemen Gehen, Wohnen, Lieben, Schreiben, Musizieren
– Zora del Buono
Gehen: Sequoia in der Dose
Das Wunder (und für sentimentale Menschen: das Rührende) an Pflanzen ist ja, dass ihnen genau EINE Chance gewährt wird, wo sie leben können, nämlich an jenem Ort, an dem ihr Samen zufällig den Boden berührt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet diese Stelle die richtige für eine erfolgreiche Existenz ist, ist winzig klein. Viel steht dem entgegen: der falsche Standort, wenig Erde, schlechte Erde, gar keine Erde, sondern etwa Fels oder gar Asphalt, gefräßige Tiere, Pilze, Bakterien, zu viel Sonne, zu viel Regen, zu wenig Sonne, zu wenig Regen, es gibt unendlich viele Möglichkeiten des Scheiterns. Wir Menschen (und das ist es, was unsere Existenz so besonders macht) können entscheiden, weggehen, weiterziehen. Wir tun das seit Jahrtausenden. Es ist, das wissen wir alle, nicht einfach, auszubrechen aus dem, woher man kommt, aber es ist (meistens) möglich.
Die zylinderförmige Grow-a-tree-Dose mit einer Handvoll Substrat und sechs bemerkenswert kleinen Sequoia-Samen (sie erinnern an vertrocknete Haferflocken) steht seit Jahren in meinem Bücherregal, ich habe sie aus Amerika mitgebracht: sechs Chancen für ein Leben außerhalb des vorbestimmten in den kalifornischen Bergen.
Ich bin stundenlang durch die Mammutbaumwälder des Sequoia Nationalparks gegangen, keine Gegend auf der Welt berührt mich mehr als diese. Die Ahnen der Baumriesen wuchsen zu einer Zeit, als es noch keine fliegenden Insekten auf der Erde gab, keine lockenden Blüten und Blumen, als Windbestäubung die normale Art der Fortpflanzung war. Am schönsten ist es frühmorgens in der Stille. Es sind noch keine Touristen unterwegs, die den General Sherman Tree besuchen wollen, den voluminösesten Baum der Welt, 84 Meter hoch (als Haus: dreißig Stockwerke!) und rund 2200 Jahre alt (vorchristlich!). Ein Baum, der den Namen eines Bürgerkriegsgenerals trägt und einst anders hieß: Karl-Marx-Tree.
Die Geschichte der Kaweah Colony ist die einer sozialistischen Utopie, eines Traums vom Zusammenleben ohne Hierarchien, einer Art vorgezogener Hippiekommune. 1885 hörten sozialistische Aktivisten aus San Francisco, das wegen des Goldrauschs florierte und Unmengen von Bauholz verbrauchte, von den riesigen Mammutbaumwäldern im Hinterland und dachten, dass sie als Holzfäller eine neue Existenz aufbauen könnten, weitab von allem. Es gibt Fotos von den Kolonisten: tatkräftige Männer mit feurigen Augen, wild entschlossene Frauen in bodenlangen Röcken, jede Menge Kinder vor gefällten Mammutbäumen mit Stammdurchmessern von 5, 6, 7 Metern. Den dicksten, größten, schönsten Baum fällten sie nicht, sondern benannten ihn nach ihrem Idol: Karl Marx. Man hätte ihnen ihre sozialistische Utopie gegönnt, aber zum Glück für die Bäume war mit dem Holzfällen bald Schluss, 1890 wurde der Yosemite Nationalpark gegründet und bald darauf der Sequoia Nationalpark.
Wer zwischen den roten, gefurchten Riesen herumgeht, die in familiären Gruppen zwischen anderen Koniferen stehen, wird gewahr, wie gefährlich das Leben im Wald sein kann, nicht unbedingt wegen der Schwarzbären, die plötzlich auftauchen und einen so stumm anschauen wie die imposanten Hirsche, sondern wegen brechender Äste. Vor allem bei Nebel, wenn alles bezaubernd verwunschen aussieht, kann das aufgesogene Wasser die Äste so schwer machen, dass sie donnernd zu Boden krachen. Überall liegen sie, manche so groß wie Bäume, neben dem General Sherman Tree liegt einer, der hat 2 Meter Durchmesser. Alles ist riesig hier, und das ist es, was das Erhabene dieses Waldes ausmacht: Man spürt die eigene Kleinheit und die eigene Bedeutungslosigkeit. Denn was sind wir schon mit unserer Lebensspanne, die lächerlich kurz wirkt im Angesicht dieser jahrtausendealten Bäume.
Die Grow-a-tree-Dose habe ich im Infocenter gekauft und nach Europa gebracht, so wie um 1900 ein findiger Mensch Sequoia-Samen und Jungpflanzen nach Europa importierte, weil es in Mode kam, dass jeder Industrielle, der etwas auf sich hielt, einen Riesenmammutbaum im Park stehen haben musste, auch Städte und Spitäler, sogar Kirchgemeinden pflanzten sie. Da stehen sie nun, oft zu nah an den Häusern, manche überragen schon die Kirchturmspitze, man hat mit großen Bäumen gerechnet, aber offenbar nicht mit so großen Bäumen, sie sind gut hundert Jahre alt, also gewissermaßen noch Jugendliche, da kann noch viel kommen – wenn’s denn das Klima zulässt und keine Krankheiten oder blindwütigen Menschen sie umbringen.
…
Fotos: © Petra Steiner
Lesezeichen mit »Holzmuster«: Gestaltung Stefan Gaßner
»Alles auf einmal erzählen«
Marina Hämmer
»Schreiben heißt nicht Geschichten erzählen.
Es ist das Gegenteil von Geschichtenerzählen.
Es ist: alles auf einmal erzählen.
Es ist: eine Geschichte und das Fehlen dieser Geschichte erzählen.
Es ist: eine Geschichte erzählen, die durch das Fehlen einer Geschichte zustande kommt.«
Marguerite Duras